2020, wir leben im Krisenmodus. Jetzt schon seit Monaten. Es überwiegen die schlechten Nachrichten, die Nerven liegen blank, die Ungeduld wächst, die Verzweiflung auch, von Hysterie auf den unterschiedlichen Seiten ganz zu schweigen. Und das sind nur die Lauten, die, die wir hören können. Die Deprimierten, Depressiven, Introvertierten, Leisen nehmen wir gar nicht wahr.
Zeitsprung, irgendwann zwischen 2014 und 2016, auch Krise, in diesem Fall meine ganz persönliche.
Ich hatte wohl schon eine ganze Weile lang darauf zugesteuert, ohne es so richtig zu merken. Viel war es in den letzten Jahren gewesen. Die Kinder, der Umzug in eine neue Stadt, Wohnungskauf, desaströser Umbau, kaum Engagements, Krankheit im allernächsten Umfeld. Dann war sie da, die dunkle Zeit. Eine monatelange Starre überfiel mich, ich war unfähig, irgendwie irgendetwas außer dem Nötigsten zu tun, um den Laden und mich am Laufen zu halten. Kaum noch Gefühle – in keine Richtung – außer vielleicht Ausweglosigkeit. Monotonie, Endzeitstimmung, Tränen. Grau.
Das sollte es gewesen sein?! Gerade 40, aber verdammt dazu, zu warten, dass sich vielleicht ein Wunder ereignete, damit ich doch nochmal etwas Sinnvolles in diesem Leben tun könnte. Ich hatte eine internationale Karriere als Opern- und Konzertsängerin von Berlin bis Hongkong hinter mir(jedenfalls fühlte es sich so an), inzwischen drei Studienabschlüsse, und trotzdem keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Ich konnte zwar genauso gut singen wie zuvor, aber offenbar interessierte das keinen mehr. Träume? Wozu? Ziele? Wünsche? Höchstens noch nach Ruhe.
Dafür übte ich mich in Selbstmitleid und auch Selbstverachtung. Nach außen hin den Schein wahren: „Und? Wie geht´s dir so?“ „Danke, alles prima!“. „Du hast doch bestimmt wieder schöne Konzerte?!“ „Ja, klar, grade ein bisschen ruhiger, aber das ist auch mal schön...“ Und dann ganz schnell nach Hause und einbuddeln.
Irgendwann machte ich den einzig richtigen Schritt und ging zu einer Psychologin. Ihre Worte „kleine Depression“ waren eine Erlösung. Dazu die Aufforderung, die Kinder mal für eine, am besten zwei Wochen zu Oma und Opa zu verfrachten und zu tun, was mir Spaß machte. Was das war, wusste ich zwar nicht mehr, aber ich bin dann erstmal schwimmen gegangen. Oft und lange.
Damit begann der weite Weg zurück. Ich gönnte mir persönliches Coaching. Ich las viel. Ich ging joggen im Wald und sagte dabei laut aufbauende Sätze zu mir, ich schrieb eine lange Liste mit Dingen, die ich gut gemacht hatte und die ich gut konnte. Einen Plan hatte ich noch immer nicht, aber es ging mir wenigstens besser.
Der Umschwung kam sehr unerwartet in Form eines NLP-Kurses. Neurolinguistisches Programmieren: Neuro für neurowissenschaftlich, also das Denken betreffend, linguistisch für die Sprache betreffend, Programmieren wie Denk-Programme (um)schreiben.
Ich hatte bis dahin gedacht, Gefühle seien eben so, wie sie nun mal gerade sind. Man muss mit ihnen klarkommen, sich ihnen stellen, vielleicht darüber nachdenken, wo sie herkommen usw. In meinem Kurs lernte ich, dass man keineswegs seinen Gefühlen so ausgeliefert ist, denn sie werden von unseren Gedanken und unseren Glaubenssätzen mitbestimmt.
Es macht einen Riesenunterschied, ob ich glaube: „Mich ruft nie wieder jemand an, das liegt wahrscheinlich daran, dass ich einfach zu alt/schlecht/unbekannt/unbeliebt/hässlich... bin.“ Oder ob ich glaube: „Mich hat schon länger niemand mehr angerufen, egal, ich kann die Leute ja auch selber kontaktieren.“ Im ersten Fall fühle ich mich furchtbar – im zweiten erwartet mich ein wenig Arbeit. Aber im Idealfall gehe ich nach dem Motto heran „Na, das wollen wir doch mal sehen, ob ich nicht mindestens 3 Muggen in den nächsten Tage zusammenbekomme!“ Die Folge im ersten Fall ist: ich sitze weiter deprimiert zu Hause herum, im zweiten Fall: ich werde aktiv. Wer versucht, kann verlieren, wer nichts versucht, hat schon verloren. Ganz alter Spruch.
Ich hatte bis zu dem Kurs außerdem gedacht, ich müsste irgendwelche großen Ziele im Leben haben, die ich erreichen will. Dieser Gedanke hat mich damals komplett überfordert, denn in meinem Kopf war noch immer alles ziemlich eintönig und grau. Beim NLP lernte ich, dass schon kleine Ziele eine große Wirkung haben können. „Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt“, heißt es auch. In meinem Fall war es so, dass ich schon sehr lange überlegt hatte, mir einige Gesangs-Schüler*innen zu suchen. Gesprochen habe ich oft davon, aber getan habe ich nichts. „Machen ist wie wollen, nur krasser.“Ich wollte manchmal und machte nie. Nun lernte ich, wie man sich ein sehr konkretes Ziel setzt, überlegt, ob und wie es am besten zu erreichen ist, ein konkretes Datum festlegt, bis wann man es erreicht haben wird und alles, was nötig ist, es zu erreichen. Was soll ich sagen: einen Monat später war ich Stimmbildnerin bei meinem Lieblingschor, dem Markuschor Hannover.
Ich überlegte, wie ein Werbe-Flyer für mich aussehen könnte, hatte Kontakt mit einer Designerin, die mir dabei half, meine Ideen umzusetzen, und bald war auch das geschafft. Diese kleinen Schritte und Erfolge gaben mir Auftrieb.
Ich überprüfte, was ich noch für behindernde Glaubenssätze hatte und fand eine ganze Menge. Zum Beispiel hatte ich vor etlichen Jahren in einem kurzen Anflug von Mut Kantoren und Dirigenten angerufen, um mich als Sängerin vorzustellen. Ungefähr mindestens einen. Leider war der wirklich blöd am Telefon. Ich habe es danach nie wieder probiert. Ich hatte in einem anderen Jahr auch etwas halbherzig einige wenige Mails aus demselben Grund verschickt – ohne Erfolg. Daraus hatte sich der sehr bequeme und angenehme Glaubenssatz entwickelt: „Das bringt nichts und funktioniert sowieso nicht.“
Nun war ich aber mit meinen anderen Aktionen gerade erfolgreich gewesen und hatte obendrein festgestellt, dass es mir Freude bereitete, Texte zu schreiben – und dass es Spaß machte, einfach wieder irgendetwas!!! zu tun, sodass ich noch einen Anlauf wagte. Ich schrieb Mails. Sehr viele Mails. Und ich schickte Briefe. Noch viel mehr Briefe. Jemand hatte mir gesagt, das hieße Kaltakquise, sei etwas sehr Schwieriges und habe eine Erfolgsquote von 1-2%. Das plante ich gedanklich ein. Um an ein Vorsingen oder Konzert zu kommen, musste ich also nur 100 Briefe schreiben. Das war ja gelacht! Ich las viele Bücher über alles Mögliche zum Thema. Am Ende des Jahres hatte ich so viel zu singen wie schon sehr lange nicht mehr. Und das hatte ich ganz allein geschafft. Ohne Agentur, ohne Hilfe von außen.
Ich belegte einen weiteren Kurs, fuhr jeden Monat einmal nach Bremen, lernte verrückte Sachen über mich und wie ich über meinen Schatten und den meiner Eltern und Großeltern springen konnte und was das mit mir zu tun hatte. Ich fand den Glauben an mich selber wieder und gewann dadurch den Glauben anderer in mich zurück.
Ein befreundeter anderer Kursteilnehmer wusste aus unseren Gesprächen, dass ich Spezialistin für Stimme bin. Er veranstaltete Führungskräfte-Coachings, und als sein Partner gesundheitlich verhindert war, fragte er mich, ob ich mir vorstellen könne, innerhalb seines Seminares Stimmtraining anzubieten. Diese Idee hatte ich schon lange gehabt, jetzt bot sich die Chance es auszuprobieren. Es klappte alles prima und machte mir außerdem noch großen Spaß. Ich hatte ein weiteres berufliches Standbein! Mir wurde klar, ich kann viel mehr als „nur singen“: Ich bin Fachfrau dafür, vor einem Publikum zu stehen, und mit meiner Stimme Menschen zu bewegen, Geschichten zu erzählen und Emotionen zu wecken. Und ich kann anderen Menschen helfen, das Gleiche zu tun!
Durch die Vorbereitungen zu meinen Sprechtrainings und dem Gesangsunterricht hatte ich inzwischen ein größeres Repertoire an Stimm- und Mental-Übungen. Daraus entstand die Idee, sie aufzuschreiben, um sie als Werbegeschenk oder auch Infomaterial für Kursteilnehmer*innen zu verteilen. Da ich wie schon weiter oben erwähnt das Schreiben und Texten für mich entdeckt hatte, machte ich mich an die Arbeit. Das war ungefähr zum Jahreswechsel 2019/20.
Fünf Jahre nach meinem persönlichen Tiefpunkt.
Als wegen der Corona-Pandemie kurz darauf alles geschlossen wurde, meine Konzerte abgesagt waren und zunächst auch keine Schüler*innen mehr kamen, schrieb ich weiter an meinen Stimmtipps. Ich hatte gelernt: ich brauche etwas zu tun, sonst stürze ich ab. So entstand der Gedanke: Dann mache ich jetzt eben ein Buch daraus. Gemeinsam mit meinem Mann und einem Designer aus Indien (das Internet macht´s möglich!) entwickelte ich ein Layout und gab mein Erstlingswerk in Druck. Zehn lange Tage vergingen, bis ich es fertig in den Händen hielt. Ich war so glücklich , dass aus meinen Gedanken plötzlich ein richtiger Gegenstand geworden war!
Die Tatsache, dass kein Chor mehr proben durfte, machte den Bedarf an Tipps für die Stimme zum Hausgebrauch groß. Mein Büchlein passte genau in diese Lücke. Mit ihm konnten auch ungeübte Sänger*innen zu Hause etwas für ihre Stimmen tun und ihrem heißgeliebten Hobby nachgehen. So wurde das Buch auch meine finanzielle Rettung.
An der Stelle schließt sich der Kreis für mich von einer (meiner persönlichen) Krise zur anderen (Corona). Wenn ich nicht vor fünf Jahren gelernt hätte, wie ich mit für mich schwierigen Situationen umgehen kann, wie ich mir selber helfen kann, was mir gut tut, dass ich aus eigener Kraft viel bewegen kann, dann ginge es mir heute bedeutend schlechter.
Ich habe natürlich Glück dabei gehabt. Und ich habe vor allem einen Mann und eine Familie, die mich unterstützen. Aber ich habe auch viel gelernt in den letzten Jahren: das alles war kein Hexenwerk. Ich brauchte in erster Linie Zeit und ein bisschen Anleitung, um an mich und meine Fähigkeiten zu glauben und aus diesem Glauben heraus mir etwas zuzutrauen.
Das Schwierigste war der erste Schritt.
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