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Seufzt du noch oder singst du schon?!

Oder: Was haben Singen und Seufzen miteinander zu tun?

Die Frage kann man schon mal stellen, denn ich glaube, nirgendwo wird so viel geseufzt, wie in Stimmtraining, Gesangsunterricht oder Chorproben - mal mit Lippenflattern (lip trill), mal ohne.

Bevor es richtig anfängt: „Einmal seufzen, bitte!“

Nach dem Einsingen: „Aus-seufzen, bitte!“

Nach einem längeren Proben-Abschnitt: „…!“

Und dann geht es los - manchmal geradezu euphorisch - als hätten alle tagelang Schwerstarbeit im Steinbruch geleistet. „Seufzen“, das hat so was von verdienter Entspannung nach harter Arbeit oder dem Überstehen von etwas sehr, sehr Unangenehmen. Eigentlich nicht gerade das, was eine Chorprobe oder Gesangsunterricht bedeutet.


Laut Wikipedia handelt es sich beim Seufzen nämlich um Unmuts(!)äußerungen, verwandt dem „Ächzen“ sowie dem „Stöhnen“. Weiter liest man dort, dass ein Seufzer „häufig in oder nach belastenden Situationen ausgestoßen" wird und eine "befreiende und / oder erleichternde Wirkung (…)“ hat.


Warum wird also so viel geseufzt?

Beim Seufzen wird die Stimme "intuitiv" genutzt. Soll heißen: Seufzen kann jede:r, und zu seufzen traut sich auch jede:r, ohne vorher darüber nachzudenken, ob das stimmtechnisch gerade richtig gemacht wird oder wie es sich anhört.

Seufzen ist eine emotionale Lautäußerung, die gesellschaftlich akzeptiert ist, im Gegensatz z. B. zu lautem Heulen (peinlich) oder Rufen (höchstens im Stadion okay).

Da wir alle gut erzogen sind, ist es vielen peinlich, ihre Stimme wirklich laut und ungehemmt zu nutzen und die gewohnte stimmliche Selbstkontrolle abzulegen. Gerade zu Beginn der Arbeit an der Stimme hilft das Seufzen, solche Hemmungen abzubauen.

Für das Seufzen gibt es kein Klangideal. Auch das ist vorteilhaft für die Arbeit an der Stimme!

Wer zum Gesangsunterricht oder Stimmtraining geht, wünscht sich meistens, einen bestimmten, als schön oder angenehm empfundenen Klang zu erzeugen.

Das kann tückisch sein, denn beim Versuch unseren Klang zu beeinflussen, gewöhnen uns manchmal in bester Absicht Dinge an, die unserer Stimme nicht gut tun und uns möglicherweise hindern, ihr Potenzial auszuschöpfen.

Erschwerend kommt hinzu, dass wir selber uns gar nicht so hören können, wie andere uns hören. (Darum sind wir übrigens immer so erstaunt, wenn wir unsere eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter hören.) Sänger:innen, die im klassischen Sinne "knödeln", nehmen sich selber z.B. innerlich oft viel lauter wahr, als sie von anderen gehört werden.

Hier findest du übrigens Tipps, die gegen das "Knödeln" helfen.


Beim Seufzen passiert diese klangliche Selbstzensur nicht. Wir fangen einfach mit einem höheren Ton an und jaulen dann wonnevoll nach unten - und es ist uns egal, wie es klingt. Je intensiver oder kräftiger der Seufzer - so möglicherweise die Hoffnung - desto eher denken die Zuhörenden, dass wir uns das durch irgendetwas wohl schwer verdient haben müssen.


Grundlage jeglicher Gesangs- oder Stimmtechnik

So bringt Seufzen unsere Stimme von oben bis unten auf natürliche, unverkrampfte Art in Bewegung - die Grundlage jeglicher Gesangs- oder Stimmtechnik.


Wichtig: Beim Seufzen Haltung bewahren!

Grundlage hin oder her: Stimmtechnisch betrachtet müssen wir beim Seufzen ein bisschen auf der Hut sein.

Die Stimme darf seufzen (jaulen, jammern…).

Aber der körperlichen Entspannung, die mit dem Gefühl von „UFF, endlich geschafft!“ verbunden ist, dürfen wir nicht nachgeben. Sonst passiert nämlich folgendes:

Wie bei einem Luftballon, aus dem die Luft entweicht, verlässt sämtliche Spannung unseren Körper, wir fallen in uns zusammen - und mit uns unser Instrument, das ja nicht nur aus der Stimme besteht, sondern uns von Kopf bis Fuß mit einbezieht.

Jede:r weiß, dass eine aufrechte Körperhaltung elementar für Singen und Sprechen ist. Und mittlerweile hat sich hoffentlich auch herumgesprochen, dass „entspanntes Singen“ nicht bedeutet, mit der Energie von Dosenspargel an die Sache heranzugehen.

Unser Instrument muss aufgerichtet und offen bleiben. GERADE, wenn die Stimme von oben bis unten entspannt funktionieren soll.

Nur so können wir unseren Atem so dosieren, dass mit möglichst wenig Kraft (Atemdruck) möglichst viel Klang entsteht.


Wenn es das nächste Mal ans Seufzen geht, dann achte darauf, ob dein Körper aufgerichtet und in einer positiven Aufmerksamkeits-Spannung bleibt. (Du kannst z. B. einen Apfel auf deinem Kopf balancieren ;-) )

Miriam Meyer, Gesangslehrerin und Stimmtrainerin, balanciert einen Apfel auf dem Kopf, um aufrechte Haltung zu üben. Sie ist wichtig, wenn es um Stimme geht.
Miriam Meyer, Gesangslehrerin und Stimmtrainerin

Ist das nicht der Fall, und du bemerkst, dass du in dich „zusammenfällst“, dann kannst du versuchen, dem mit gegenläufigen Armbewegungen gegenzusteuern.

Soll heißen: Während du stimmlich von oben nach unten seufzt, beschreibst du mit den Armen eine weit ausladende Bewegung von unten nach oben. Oder du tust so, als würdest du eine Kiste vor deinem Oberkörper nach oben heben oder jemandem ein Tablett mit leckeren Häppchen servieren.


Das Seufzen als "Vorstufe" zum Singen

Beim Singen von abwärts gerichteten Melodien passiert leider häufig das Gleiche wie beim Seufzen. Wir denken, wir könnten körperlich entspannen, weil (oder wenn) die Töne tiefer werden.

Ja, es stimmt schon, dass tiefere Töne mit weniger Spannung auskommen als hohe, aber auch sie brauchen ein Mindestmaß an Körpereinsatz. Auch in tieferen Lagen muss der Körper in einer aufmerksamen Grundspannung bleiben, sonst leiden Intonation und Klang.


"Ich hatte viel Bekümmernis" (BWV 21 ) - Seufzer, Tränen, Kummer, Not

J.S. Bach, Meister gesangstechnischer Finesse (ich persönlich spreche eher von gesangstechnischen Gemeinheiten), hat für seine Kantate "Ich hatte viel Bekümmernis" (BWV 21 ) eine Sopran-Arie mit dem überaus ansprechenden Titel "Seufzer, Tränen, Kummer, Not" komponiert.

Sie ist gespickt mit barocken Seufzer-Motiven, kummervoll abfallenden Linien und allgemein unangenehm zu singenden, großen Intervallen.

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Entspannung is da nich! Wer hier dem Seufzer-Gedanken und vor allem -Gefühl nachgibt, ist intonationstechnisch verloren.

Solltest du also Schwierigkeiten mit der Intonation bei abwärts gerichteten Gesangslinien haben, kannst du genauso gegensteuern wie gerade beim Seufzen beschrieben: Kombiniere die abfallenden Melodien mit aufwärts gerichteten Bewegungen.


Solltest du Fragen haben oder dich näher mit deiner Stimme beschäftigen wollen, dann schreib mir gerne unter stimmerfolg@miriam-meyer.de .

Gemeinsam seufzt es sich schöner :-)



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