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Gut gemeint ist nicht gut gemacht – Zunge und Kiefer als Ersatz-Stütze beim Singen

Aktualisiert: 24. März 2022

Hattest Du schon einmal einen Gips-Arm? Oder einen Gips am Fuß?

Bei uns hat es vor einiger Zeit meinen Sohn erwischt. Besser gesagt: Es hat ihn getroffen. Ein kräftig geschossener und ungünstig mit dem Arm abgewehrter Fußball war es. Und zack! Arm gebrochen.

Tränen gab es mehrmals: Zuerst natürlich weil es weh tat. Dann als der Gipsverband angelegt – aber erstaunlicherweise auch, als er abgenommen wurde und der kleine Arm ganz dünn und blass geworden wieder zum Vorschein kam.


Was hat der Gipsarm mit der Stimme zu tun?

Indem sie den gebrochenen Knochen abstützen, ermöglichen uns Gips-Verbände oder -Schienen, ein verletztes Körperteil weiter zu benutzen. Sie geben ihm ersatzweise den augenblicklich nicht vorhandenen Halt. Andererseits schränken sie unsere natürliche Bewegungsfreiheit ein, und wir sind weniger flexibel.


„Ersatz-Stütze“ beim Singen und Sprechen

In diesem Stimmtipp soll es um eine „Ersatz-Stütze“ beim Singen und Sprechen gehen. Wenn die richtige, körperliche Atem-Stütze nicht vorhanden oder zu schwach ist, übernehmen Kiefer und Zunge oft ihre Aufgabe, um den gewünschten Klang herzustellen.

(Hier eine Übung für die tiefe Bauchatmung, die wichtig für die Atem-Stütze ist.)


Im Gesangsunterricht oder Stimmtraining erlebe ich es immer wieder, dass Sänger*innen Kiefer und / oder Zunge festhalten, oder dass die Zunge ungünstige Bewegungen macht, z.B. „in den Hals rutscht“ und sich im Rachenraum zusammenzieht.

Das geschieht immer in guter Absicht: Es geht allen darum, einen schönen oder tragfähigen Klang zu erzeugen. Mit Kiefer und Zunge haben wir dabei zwei Werkzeuge, die sehr wirkungsvoll sind. Schon kleine Veränderungen an ihrer Stellung haben große Auswirkungen auf den erzeugten Klang. So können wir ihn „ganz einfach“ in eine bestimmte, gewünschte Richtung lenken und ihn vermeintlich kontrollieren.


Verspannungen in Kiefer und Zunge haben Auswirkungen auf die Stimme

Der Haken an der Sache ist, dass sowohl Kiefer als auch Zunge beim Singen am besten möglichst entspannt sein sollten. Das ist nicht immer möglich, sollte aber die Basis sein, von der aus wir unsere Stimme aufbauen. Sind Zunge und Kiefer angespannt oder sogar verspannt, hat das immer ungünstige Auswirkungen auf Kehlkopf und Stimme, ganz einfach, weil sie anatomisch so eng miteinander verknüpft sind.


Wofür ist Atem-Stütze gut?

Das tatsächliche „Kontrollzentrum“ für unsere Stimme ist der Körper, bzw. die Atem-Stütze. Wenn sie funktioniert, kann unsere Stimme frei schwingen, können wir laut und leise, hoch und tief und schnelle Koloraturen ebenso wie lange Legato-Bögen singen. Und natürlich wird der Ton dann (aber erst im zweiten Schritt!!!) noch zusätzlich in Mund- und Rachenraum geformt.

Die Atem-Stütze dient dazu, unseren Atemdruck so zu regulieren, dass wir mit möglichst wenig Ausatem-Druck möglichst viel (und flexibel) Klang erzeugen können.

Wenn die Atem-Stütze nicht richtig eingesetzt wird oder nicht vorhanden ist, fangen wir an, den Klang oberhalb unseres Kehlkopfs zu manipulieren – mit Zunge und Kiefer.

Das macht das Singen, aber auch das Sprechen anstrengend. Wir sind schnell abgesungen oder heiser, Höhe oder Tiefe gehen verloren, der Klang ist nicht variabel. Die Stimme ist weniger tragfähig, Obertöne gehen verloren.


In diesem Artikel geht es im übertragenen Sinne darum, „den Gips abzunehmen“ und die Ersatz-Stütze auszuschalten. Er bietet keine Erklärung dafür, wie das mit der richtigen Stütze funktioniert.

Wenn die Verspannungen in Zunge und Kiefer gelöst sind, sind aber die Voraussetzungen für eine funktionierende Körper-Stütze definitiv besser.


Darum hier meine Tipps zum Lockern von Zunge und Kiefer:


1. Einige Töne rauf und runter oder eine kleine Melodie singen und dabei die Zungenspitze schnell von links nach rechts hin und her bewegen (manche machen das so, wenn sie sich über Babys im Kinderwagen beugen...). Der Kiefer bleibt dabei ruhig.


2. Mit der Zunge ein „L“ sprechen und sie dann in der Position lassen, als sei sie oben am Gaumen hinter den Zähnen festgeklebt. Dann den Kiefer abwechselnd öffnen und schließen.


3. Mit der Zunge in dieser „L-Position“ singen. Das funktioniert sogar mit Text und klingt dann wirklich lustig.


4. Einfache Skalen oder Melodien auf Zungen-R singen. (Wer das Zungen-R lernen möchte, findet hier ein kleines Übungs-Video zum "gerollten R".)


5. Beim Singen den Unterkiefer zügig und locker hin und her bewegen. Die Zahnreihen etwa 1 cm weit öffnen und am besten dabei in einen Spiegel schauen. Der Kopf soll ruhig bleiben und nur der Kiefer aktiv sein.


6. Singen mit der Vorstellung, beim Singen eine kleine Weintraube zwischen den Backenzähnen zu halten. Sie darf weder zerbissen noch verschluckt werden. (Den Trick hat mir eine Logopädin netterweise mal verraten. Danke dafür :-) )


7. In meinem Buch gibt es den Tipp „Zähneputzen ohne Zahnbürste“, eine Übung zum Lockern und Aktivieren der Zunge schon vor dem Singen bzw. Sprechen: Jeden Zahn einzeln mit der Zunge abtasten, sowohl außen als auch innen.


8. Singen mit herausgestreckter Zunge. Klingt nicht schön, sieht nicht schön aus, ist aber sehr erhellend im Hinblick auf mögliche Verspannungen.


Und noch zur grundsätzlichen Orientierung

9. Die Öffnung des Kiefers ist in entspannter Lage so, wie wenn Dir vor Erstaunen (entspannt!!!) die Kinnlade runterfällt. Bei höheren Tönen kann der Mund auch weiter geöffnet werden.


10. Die Zungenspitze hält bei allen Vokalen (a, e, i, o, u) Kontakt zu den unteren Schneidezähnen. Wenn sie nicht gerade Konsonanten wie t, d oder l formt, ist sie entspannt im Unterkiefer ruhend gut aufgehoben.


Achtung vor Singen mit Gähn-Gefühl!

Wovor ich an dieser Stelle einmal warnen möchte, ist das Singen mit ausgeprägtem Gähn-Gefühl. Das wird sehr gerne empfohlen, um für Weite im Rachen zu sorgen oder eine tiefe Kehlkopf-Stellung zu erreichen.

Ich habe schon so häufig erlebt, dass das ins Gegenteil umschlägt, die Zunge „in den Hals rutscht“ und von oben auf den Kehlkopf drückt. Besonders gemein dabei: Innerlich hört sich das für den Singenden super an, und es stellt sich auch ein Gefühl von Kontrolle über die Stimme ein, aber nach außen dringt dieser tolle Klang leider nicht.

Was hilft in diesem Fall? Z.B. Übungen mit „gagagaga“ / „kakakakaka“ oder „jajajaja“. Statt „Gähngefühl“ besser ein „positives Erstaunen“ nutzen.


Das Abschalten der Ersatz-Stütze braucht Geduld

Um noch einmal auf den Beginn und den Gips-Verband zurückzukommen:

Mein Sohn hat sich schon nach kurzer Zeit an seine Arm-Schiene gewöhnt und sie kaum noch wahrgenommen. Manchmal war sie ihm zwar lästig, manchmal (z.B. weil die Haare seltener gewaschen wurden...) aber auch sehr willkommen.

Das was auch der Grund, warum es, wie eingangs erwähnt, beim Abnehmen des Verbandes erneut Tränen gab. Der Arm fühlte sich so ungewohnt instabil und nackt an - obwohl der Knochen zum Glück wieder gut zusammengewachsen war.

Auch das Abschalten der „Ersatz-Stütze“ beim Singen ist eine Herausforderung! Sie hat ja bisher Sicherheit und Kontrolle vermittelt.


Ein Blick in den Spiegel hilft beim Singen Üben

Wichtig ist erstmal, sich bewusst zu werden, dass es möglicherweise Verspannungen im Bereich von Zunge und Kiefer gibt. Dabei kann schon ein Blick in den Spiegel beim Singen helfen. Dann muss die Körper-Stütze aufgebaut werden (wie die Muskulatur am dünnen Ärmchen nachdem der Gips ab war) – das ist ein Kapitel für sich und braucht Training.


Kontrolle abgeben

Und dann kommt noch hinzu, sich von einer bestehenden Klang-Vorstellung zu lösen. Manche nicht mehr „ersatzgestützten“, wirklich freien Töne klingen ungewohnt, vielleicht auch lauter als bisher. Wir müssen neu hören lernen.

Dabei kann es helfen, das eigene Kontroll-Hören abzuschalten. Versuch, Dir beim Singen nicht selber zuzuhören und etwas zu kontrollieren. Wirf Dich stattdessen in Deine Emotion hinein, Deine Lust am Singen oder in das, was Du damit ausdrücken willst.


Alles in allem ein wirklich herausforderndes, komplexes, aber sehr lohnendes Feld, das mehr Klang, Gestaltungsmöglichkeiten und auch Wohlgefühl beim Singen bringt.

Ich wünsche Dir viel StimmErfolg!


Mit etwas Hilfe durch Gesangsunterricht oder Stimmtraining geht es leichter und schneller

Wenn Du lernen willst, wie das mit der Atem-Stütze für einen freien Stimmklang richtig geht, helfe ich Dir gerne:

- Online oder vor Ort in Hannover

- in Gesangsunterricht oder Stimmtraining,

- in Einzelstunden oder Workshops


Meld Dich einfach per Mail .


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