Wenn ich auf meinen eigenen Lebenslauf als Sängerin bisher zurückblicke, dann war der ganz schön kurvig. Es gab strahlende Höhen und finstere Tiefen, und dazu bin ich noch zickzack und hin und wieder sogar im Kreis gelaufen. Mein Seelenleben hat diese Wendungen selbstverständlich immer mitvollzogen. Es gab diese Zeit, in der ich mir nicht vorstellen konnte, dass irgendwann überhaupt mal wieder eine Höhe kommt.
Dass ich es damals geschafft habe, mich daraus zu befreien, ist etwas, das mich im Nachhinein mit großem Stolz erfüllt. Wenn ich es genau betrachte, ist das eigentlich die Sache in meinem Leben (neben meiner Familie), auf die ich am allerstolzesten bin. Nicht die tollen Partien, die ich an der Oper in Berlin gesungen habe, nicht die CD-Aufnahmen, nicht der ECHO, nicht die Namen großer Dirigenten oder Regisseure. Nein, diese persönliche Entwicklung ist es.
Und damit bin ich beim zentralen Punkt dieses Artikels:
Die Leistungen, die mich am meisten Kraft gekostet haben, die ich selber als meine allergrößten betrachte, kommen in einem normalen Lebenslauf nicht vor. Ganz im Gegenteil: in jeder offiziellen Bewerbung würde ich sie unterschlagen. Okay, dass ich zwei Söhne habe, kann ich in meinem Alter ruhig angeben. Als ich jünger war, habe ich das nicht getan. Zu sehr muss man in der Musikbranche dadurch mit Nachteilen rechnen. Agenturen raten davon ab.
Jetzt könnte man sagen, dass das für einen künstlerischen Lebenslauf ja auch vollkommen irrelevant sei. Aber da entgegne ich: Gerade für jemanden, der oder die auf der Bühne Emotionen und lebendige Charaktere darstellen soll, ist es von Vorteil, das Leben in seiner ganzen Bandbreite kennengelernt zu haben. Ich finde es übrigens auch interessant, auf der Bühne Menschen mit unterschiedlichem Körperbau und in unterschiedlichem Alter zu sehen. Das macht eine Geschichte für mich glaubhaft.
Zurück zum Lebenslauf: Ich habe stattdessen versucht, die „Lücken“ dort so gut es ging, zu kaschieren. Ich habe nicht geschrieben, dass mir wichtig war, Zeit mit meinen Kindern zu verbringen, und ich deshalb einige Jahre lang keine Opernproduktionen machen wollte, weil das bedeutet hätte, acht Wochen in Rostock, Dresden oder sonstwo mit Proben zu verbringen. Den Stolz über das Besiegen einer depressiven Phase schreibt man erst recht nicht in einen Lebenslauf. Oder kennt Ihr jemanden, der / die das getan hat?
Warum ich das jetzt hier teile?
Weil ich in meiner Tätigkeit als Coach für Musiker*innen immer wieder mit Fragen und großen Selbstzweifeln meiner Klient*innen zu tun habe, wenn es um ihre Lebensläufe für Bewerbungen geht.
Da ist der Sänger, der wegen eines Fachwechsels sein Festengagement an einem großen Opernhaus verloren hat. Jede*r, der oder die sich ein bisschen auskennt, weiß, wieviel Mut und Kraft und vor allem Zeit man dafür braucht, in ein dramatischeres Fach hineinzuwachsen. Mit wieviel Selbstzweifel und Selbstüberwindung, Fleiß und Disziplin das verbunden ist. Es ist eine unglaubliche Leistung.
Nur: Wie schreibt man das in einen Lebenslauf, der dem gewünschten Glanz der erbarmungslosen Opernwelt gerecht wird? Wie erklärt man diesen „Knick“, diese Lücke, in der keine tollen Namen und Orte stehen?
Da ist die Kollegin, die sich nicht traut, eine Konzertreise abzusagen, weil sie wenige Wochen vorher entbinden wird. Eine Begründung muss her, warum sie nicht singen kann, aber das Kind darf auf keinen Fall darin vorkommen.
Eine Sängerin, Mitte 40, berichtet mir, dass Agenturen müde abwinken, wenn sie ihr Alter hören. Dass sie, obwohl sie zwei Kinder hat, ununterbrochen weiter an sich und überhaupt gearbeitet hat und stimmlich jetzt erst auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und im Wagner-Fach angekommen ist, interessiert dabei nicht. Ab 35 muss frau damit rechnen, zu alt zu sein – wenn sie sich nicht bis dahin einen festen Platz in einer Agentur erkämpft hat.
Und das Traurigste an der ganzen Sache ist ja eigentlich, dass wir diese negativen Urteile über uns einfach übernehmen.
Wir reagieren mit Selbstzweifeln. Wir sagen uns selber, dass wir zu alt sind, dass unsere Lebensläufe nicht gut genug sind, weil wir zwischendurch etwas anderem Priorität eingeräumt haben.
Wir sind so darauf gedrillt, uns in dieses System hineinzupressen, dass wir uns und unsere wirklichen Leistungen im Leben nicht mehr wahrnehmen. Wir haben Angst nicht zu genügen. Und haben wir es doch geschafft, wieder ein Engagement zu bekommen, haben wir Angst, dass uns jemand auf die Schliche kommt, weil wir es eigentlich gar nicht verdient haben. Das hat sogar einen Namen: Imposter Syndrom. Das hilft aber auch nicht weiter.
Und vielfach haben wir auch noch ein schlechtes Gewissen, wenn wir uns im Lebenslauf als erfolgreich darstellen und mit Jahreszahlen jonglieren. Denn wirklicher Erfolg findet in dieser Opern-Schein-Welt ja nur auf der Bühne statt.
Wie kann man dem begegnen?
Im NLP gibt es den Satz "Die Landkarte ist nicht das Gebiet". Das soll bedeuten, jeder stellt sich vom Leben (dem Gebiet) eine persönliche gedankliche Landkarte her, eine ganz eigene Sicht auf die Dinge. So beurteilen wir, jede*r für sich, ein und dasselbe Gebiet ganz unterschiedlich. So beurteilen auch wir selber, je nachdem, in welcher Verfassung wir sind oder wie wir geprägt sind, unser Leben unterschiedlich.
Es hilft, wenn wir uns selber bewusst machen, was wir eigentlich alles geschafft und erreicht haben und diese Leistung uns gegenüber ausgiebig würdigen. Wenn wir mit gestärktem Selbstbewusstsein und im Glauben an uns selbst wieder den Hut in den Ring werfen, vergrößern wir unsere Chancen auf Erfolg.
Es ist auch wichtig, sich von Abweisungen nicht zu schnell aus dem Konzept bringen zu lassen. Wie sagt man: Wenn etwas schief geht, zeigt das nur, dass man etwas gewagt hat. Durchatmen, wieder versuchen.
Beim Schreiben des Lebenslaufes oder der Bewerbung hilft es, eine andere Perspektive einzunehmen, wie z.B. die einer guten Freundin oder die eines glühenden Fans. Es kann auch sinnvoll sein, jemanden beim Schreiben um Hilfe zu bitten. Positive Sätze über sich selbst zu schreiben, fällt vielen von uns unglaublich schwer. „Eigenlob stinkt!“, das sitzt gerade in Menschen, die auf irgendeine Art an sich zweifeln, besonders tief fest.
Ich hatte in Berlin eine tolle Lehrerin; sie hatte an der Deutschen Oper oft mit Jessey Norman zusammen auf der Bühne gestanden. Ich war hin und weg, als ich das hörte. Eine solche Karriere, eine solche Stimme, diese Begabung – Wahnsinn! Wie gerne hätte auch ich das gehabt, oder nur die Hälfte von allem. Meine Lehrerin sagte damals etwas zu mir, das ich bis heute nicht vergessen habe: „Die Jessey, die hatte es auch nicht leicht. Sie hatte keine Familie, so wie du.“ Eigentlich kein großer Satz. Aber mich hat er getröstet. Es ist dann eben doch nicht alles Gold, was glänzt.
Das soll nicht heißen, dass es nicht möglich ist, auch als Sänger*in Karriere und Familie zu haben. Bewahre! Schlimm ist nur, dass es einem so schwer gemacht wird und mit so viel Heimlichtuerei und Verstellung verbunden ist – und dass das wahre Leben in unseren Lebensläufen nicht vorkommen darf.
Bist auch Du gerade in einer Umbruchphase oder suchst Unterstützung bei der Überwindung von alten Überzeugungen, die Dir im Weg stehen? Dann meld Dich gerne bei mir für ein unverbindliches Gespräch zum Kennenlernen.
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